Der Traum
Es heißt in Deinem Brief, ich soll ein Märchen für Dich schreiben. Als Gegenstück zu Deiner schönen Erzählung soll ich, armer Schreiberling, ein Aufsätzchen verfassen.
Wie denn?
Schreiben ist gar nicht so einfach,
vor allem wenn man so gründlich übernächtigt ist. Aber Müdigkeit ist ein guter
Keim für Träume und jeder weiß, aus Träumen entstehen Märchen.
Oder aus Märchen entstehen Träume?
Auf jeden Fall habe ich wieder
geträumt. Von Stränden im fernen Norden, vom Segeln auf der Schlei, vom
Zusammensein im Wald... und dann bin ich traurig aufgewacht.
Das Vermissen macht mich so traurig.
Wie in einem Film sind mir rasch die
Bilder der Zeit von September 1987 bis September 1989 vorgeführt worden.
„Von wem?“ fragst du mich.
Von meinem Gedächtnis. Es gönnt
meinen Erinnerungen keine Ruhe. Und das wird manchmal so schmerzhaft, daß ich
nicht mehr schätzen kann, was ich jetzt habe. Von lautem Zurückdenken.
Die Gegenwart ist aber versprechend
wie noch nie: eine Arbeit, die Spaß macht, ein Teil meiner Kindheitsträume ist
in Erfüllung gegangen... und ich fühle mich immer noch traurig, unsicher...
allein, obwohl Tausende von Menschen um mich herumirren.
Was fehlt denn?
Vielleicht die Kraft, der Mut, ein
Kapitel meines Lebens zu beenden und ein neues anzufangen. Aber ich habe Angst.
Ich zittere vor Angst, wenn ich ein
leeres Blatt sehe.
Ein weißes Blatt. Wie soll ich denn
nur anfangen zu schreiben?
Der Wecker läutet.
Die Angst löst sich auf. So ein
Wunder!
Als ich mich dann langsam aufrichte
und den Weg zur Dusche einschlage, fühle ich mich wie neugeboren.
Geboren wie ein alter Mann, der
verzweifelt versucht, seine Erlebnisse zu ordnen. Und zu werten.
Es ist schon so weit. Ich fahre zur
Schule und plötzlich halte ich an: Die Sonne geht über dem Meer auf.
Groß, rot, hell.
Die Stadt wacht langsam auf und unten
in der Stadt fängt es an zu wimmeln. Das Leben fängt an, auf das neue weiße,
leere Blatt zu schreiben.
Und das Buch wird geschrieben. Das
BUCH wird weiter geschrieben, bis es eines Tages zugemacht wird. Und es
entsteht das Abenteuer vom jungen Mann, der ins fremde Land muß. Er fühlt sich
allein. Er fühlt sich einsam, bis er sich entschließt, um sich herumzusehen.
Wenn er das macht, wird ihm klar: er ist gar nicht allein.
Er hat die graugrünen Berge und die
rote Sonne und das blaue Meer... und diese bunten Leute, die immer um ihn
stehen.
Und er denkt wieder.
Er träumt von Stränden im fremden
Norden, vom Wandern und Lagerfeuer, vom Segeln auf der Schlei...
Und dann ist er nicht mehr einsam: Er
fühlt, er kann nicht einsam sein. Auch wenn er der letzte Mensch auf der Erde
wäre. Denn auch dann hat er seine Erinnerungen. Und noch etwas wichtiger: Er
hat Lust zu leben. Zu erleben.
In diesem Moment muß ich lächeln. Ich
fahre dann weiter zur Schule. Durch die Stadt.
Und das Leben geht unbeirrt weiter.
Das BUCH hat noch viele neue, weiße, leere Blätter.
(Dezember 1988)
(Dezember 1988)
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